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Disziplin und Freiheit

Eine symbiotische Beziehung in der Montessori-Pädagogik

Als Montessori-Pädagogin stehe ich oft vor der Herausforderung, die Konzepte von Freiheit und Disziplin sowohl Eltern als auch anderen Interessierten oder interessierten Pädagog:innen näherzubringen und zu erläutern.

Diese beiden Begriffe scheinen auf den ersten Blick vielleicht widersprüchlich. In der Praxis der Montessori-Pädagogik sind sie jedoch eng miteinander verknüpft und essenziell für die Entwicklung des Kindes.

Daher möchte ich heute in diesem Blogbeitrag das Thema Disziplin ein wenig vertiefen:

 

Was versteht man darunter in der Montessori-Pädagogik?
Wie kann Disziplin erreicht werden?
Und wann ist eine Intervention erforderlich?

Montessori Paedagogik in der Klasse Disziplin 7 scaled

Disziplin & Freiheit: Die Dualität in der Montessori-Pädagogik

Freiheit wird oft als grenzenlose Wahlmöglichkeit missverstanden.
Aber eigentlich handelt es sich vielmehr um die „vorbereitete Freiheit“, die innerhalb einer sorgfältig gestalteten Lernumgebung stattfindet.

Diese Umgebung ist immer so aufgebaut, dass sie die natürliche Entwicklung jedes Kindes unterstützt und fördert.
Kinder dürfen hier ihre Aktivitäten selbst wählen, was natürlich ihre Selbstmotivation und ihr Engagement stärkt.
Diese Wahlmöglichkeiten sind jedoch nicht unbegrenzt!
Sie müssen immer abgestimmt auf die Entwicklungsphase des Kindes sein und darauf ausgerichtet, dass das Kind durch seine Tätigkeiten wachsen und lernen kann.

Die Rolle der Montessori-Pädagogin oder des Montessori-Pädagogen unterscheidet sich hier erheblich von der traditionellen Lehrmethode.
Hier steht nicht die Durchführung eines festgelegten Lehrplans im Vordergrund, sondern die individuelle Begleitung jedes Kindes auf seinem eigenen und individuellen Lernweg.
Diese individuelle Förderung erfordert von den Pädagog:innen eine hohe Flexibilität, Fachwissen und die Fähigkeit, auf die spezifischen Bedürfnisse und Interessen jedes Kindes einzugehen, während gleichzeitig die Lernziele des allgemein gültigen Lehrplans berücksichtigt werden.

Was versteht man jetzt genau unter Disziplin in der Montessori-Pädagogik?

Im Allgemeinen wird Disziplin oft als etwas betrachtet, das von außen – durch Autoritätspersonen – aufgezwungen wird.

Im Montessori-Kontext jedoch entwickelt das Kind eine innere Disziplin, die aus dem freien Arbeitsprozess selbst entsteht.
Maria Montessori sah in der Selbstregulierung den Kern der Disziplin, wodurch Kinder lernen, ihre eigenen Handlungen zu steuern und Verantwortung für ihr Verhalten zu übernehmen.
Diese Fähigkeit entfaltet sich aus der Freiheit heraus, Entscheidungen zu treffen und die Konsequenzen zu erleben.
Disziplin wird also nicht als eine Reihe von Strafen verstanden, sondern als die Entwicklung innerer Ordnung und Selbstkontrolle.

Montessori Paedagogik in der Klasse Disziplin 6 scaled

Es ist wie ein kleines Geheimnis, das sich hier offenbart – eine verborgene Kraft, die Kinder dazu befähigt, ihre Potenziale zu entfalten und die Welt auf ihre eigene einzigartige Weise zu entdecken.

Wie kann diese Disziplin erreicht werden?

Disziplin in einer Montessori-Umgebung wird durch eine Reihe von Faktoren erreicht:

 

  1. Vorbereitete UmgebungDie Umgebung ist so gestaltet, dass sie die Unabhängigkeit und das selbstgesteuerte Lernen fördert. Jedes Material hat seinen Platz, und die Kinder lernen, nach dem Gebrauch alles wieder dorthin zurückzulegen. Da das Material nur einmal vorhanden ist, lernen die Kinder auch, das soziale Miteinander zu stärken, Geduld beim Warten zu entwickeln und Absprachen mit anderen zu treffen. All dies fördert die Ordnung und das Verantwortungsbewusstsein.
  2. Freie Wahl: Kinder haben die Freiheit, Aktivitäten auszuwählen, die ihren Interessen und Entwicklungsstufen entsprechen. Pädagog:innen dokumentieren sorgfältig die Fortschritte jedes Kindes und begleiten es auf seinem individuellen Lernweg, um sicherzustellen, dass keine Wissenslücken entstehen.
    Durch eine kontinuierliche Beobachtung und gezielte Unterstützung erhalten die Kinder täglich passende neue Herausforderungen und Anregungen.
  3. Entwicklung der Selbstregulation: Kinder lernen, ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen und zu regulieren. Dies umfasst auch die Fähigkeit, ihre Aufmerksamkeit zu fokussieren und über einen längeren Zeitraum hinweg konzentriert zu arbeiten. Durch die Freiheit, ihre Aktivitäten selbst zu wählen und in ihrem eigenen Tempo zu arbeiten, lernen die Kinder, ihre Konzentration aufrechtzuerhalten und sich nicht von äußeren Ablenkungen ablenken zu lassen.
  4. Vorbildfunktion: Die Pädagog:innen dienen als Vorbilder für ruhiges und diszipliniertes Verhalten. Durch Beobachten und Nachahmen lernen die Kinder, wie sie sich selbst regulieren können.
    Diese gelebten Werte und Verhaltensweisen werden zu einem integralen Bestandteil der Montessori-Gemeinschaft und prägen die Entwicklung der Kinder nachhaltig.
  5. Altersgemischte Gruppen und Klassen: Jüngere Kinder lernen von den älteren, und ältere Kinder festigen ihr Wissen und ihre Fähigkeiten, indem sie den jüngeren helfen.
    Dies fördert ein natürliches Umfeld für soziales Lernen und Disziplin.
  6. Klare Strukturen und Routinen: In einer Montessori-Umgebung werden klare Strukturen und Routinen geschaffen, die den Kindern Sicherheit und Orientierung bieten. Durch wiederkehrende Abläufe lernen die Kinder, Erwartungen zu verstehen und sich an sie zu halten.
  7. Konfliktlösung und Empathie: Kinder werden dazu ermutigt, Konflikte auf konstruktive Weise zu lösen und empathisch mit anderen umzugehen. Durch das Erlernen von Konfliktlösungsstrategien und die Förderung von Empathie entwickeln die Kinder wichtige soziale Kompetenzen und tragen zur Schaffung einer harmonischen Gemeinschaft bei.
  8. Konsequente Reaktion auf unangemessenes Verhalten:
    Störendes Verhalten wird in jeglicher Form konsequent abgelehnt und unterbunden. Durch klare Grenzen und konsequentes Handeln lernen die Kinder, zwischen angemessenem und unangemessenem Verhalten zu unterscheiden.
    Die Pädagog:innen unterstützen die Kinder dabei, die Konsequenzen ihres Handelns zu verstehen und Verantwortung für ihr Verhalten zu übernehmen.
  9. Individuelle Unterstützung: Jedes Kind ist einzigartig, und Montessori-Pädagog:innen bieten individuelle Unterstützung und Anleitung entsprechend den Bedürfnissen jedes Kindes. Durch die persönliche Betreuung können Kinder lernen, ihre eigenen Stärken und Schwächen zu erkennen und ihre Fähigkeiten gezielt weiterzuentwickeln.
  10. Die Zeitkomponente: Disziplin entsteht nicht über Nacht, sondern erfordert Zeit, Geduld und Kontinuität.
    Kinder benötigen Zeit, um die Strukturen und Routinen der Umgebung zu verinnerlichen, um ihre Selbstregulation zu entwickeln und um soziale Kompetenzen zu erlangen.
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Disziplin – ein tiefes Verständnis entwickeln

Insgesamt entsteht Disziplin also in einer Montessori-Gemeinschaft durch die Schaffung einer unterstützenden Umgebung, die die Selbstständigkeit, Eigenverantwortung und soziale Interaktion der Kinder fördert.
Durch diese Struktur entwickeln die Kinder nicht nur Disziplin im Sinne von Ordnung und das Einhalten von Regeln, sondern auch ein tieferes Verständnis für sich selbst und ihre Beziehungen zu anderen.

Kinder werden verstehen, dass Disziplin nicht nur bedeutet, bestimmte Regeln zu befolgen, sondern auch, das Richtige zu erkennen und danach zu handeln!

Es ist, als ob für die Kräfte, die in ihrer Seele ruhen, ein Weg frei geworden wäre, die besten Seiten des Charakters kommen zum Vorschein.
Sie erweisen sich gegen jedermann freundlich, sie opfern sich auf, anderen zu helfen, sie sind voller Verlangen gut zu sein.“

Maria Montessori

 Die Auseinandersetzung mit den Konzepten von Gut und Böse spielt dabei eine ganze wichtige und entscheidende Rolle.
Kinder müssen lernen, die Auswirkungen ihres Handelns auf sich selbst und andere zu verstehen und zwischen moralisch richtigen und falschen Handlungen zu unterscheiden. Dies erfordert ein tiefes Verständnis für die Werte und Normen, die in ihrer Gemeinschaft gelten.

Die Rolle der Pädagog:innen besteht daher darin, den Kindern nicht nur beizubringen, was richtig und falsch ist, sondern auch, sie dabei zu unterstützen, ihre eigenen moralischen Urteile zu entwickeln.
Indem sie den Kindern die Möglichkeit geben, in einer sicheren und unterstützenden Umgebung zu experimentieren und zu lernen, tragen Pädagog:innen erheblich dazu bei, dass die Kinder zu verantwortungsbewussten und einfühlsamen Mitgliedern der Gesellschaft heranwachsen.

Signale für unterstützende Intervention

Auch wichtig zu verstehen ist, dass störendes oder unproduktives Verhalten eines Kindes oft ein Hinweis darauf ist, dass das Kind möglicherweise noch nicht über die notwendigen Ressourcen oder Fähigkeiten verfügt, um seine Emotionen angemessen zu regulieren oder um Konflikte auf eine gesunde Art und Weise zu lösen.

Montessori-Pädagog:innen betrachten dieses Verhalten immer als ein wichtiges Signal dafür, dass das Kind Unterstützung benötigt, um bessere Entscheidungen zu treffen und angemessenes Verhalten zu entwickeln.
Hier geht es aber nicht darum, das Verhalten einfach zu „stoppen“, sondern darum, dem Kind zu helfen, seinen Weg zu finden.

Als Grundsatz gilt:
Die Freiheit endet immer dort, wo sie das Gemeinwohl beeinträchtigt oder die Rechte anderer verletzt.
In der Montessori-Pädagogik wird großen Wert darauf gelegt, dass die Freiheit jedes einzelnen Kindes im Einklang mit den Bedürfnissen und Rechten der Gemeinschaft steht und wird hier nicht als grenzenlose Autonomie verstanden bzw. ist es nicht mit einem laissez-faire-Ansatz gleichzusetzen.

Daher ist es für die Pädagog:innen eine herausfordernde Aufgabe, zu entscheiden, wann eine direkte Intervention erforderlich ist und wann es ausreicht, das Verhalten des Kindes lediglich zu beobachten und ihm Raum zur Selbstregulierung zu geben. Diese feine Unterscheidung erfordert ein sensibles Gespür für die individuellen Bedürfnisse und Entwicklungsstufen jedes Kindes.

Eine klare und konsequente Reaktion auf unangemessenes Verhalten, insbesondere auf gewalttätiges Verhalten, ist jedoch entscheidend, um dem Kind klare Grenzen zu setzen und ihm dabei zu helfen, die Konsequenzen seines Handelns zu verstehen.
Gewalttätiges Verhalten wird in jeder Form abgelehnt und muss sofort unterbunden werden, um eine sichere und respektvolle Lernumgebung für alle Kinder zu gewährleisten.

Die konsequente Unterbindung des Verhaltens hilft den Kindern dabei, zwischen richtig und falsch sowie zwischen angemessenem und unangemessenem Verhalten zu unterscheiden.
Diese Unterscheidung ist von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung von Disziplin und Selbstregulierung bei Kindern.
Es ist hier jedoch auch wichtig zu betonen, dass diese Unterscheidung für die Kinder nicht bedeuten soll, dass Aktivität per se schlecht ist und Passivität automatisch gut! Unser Ziel ist es nicht, dass alle Kinder still und regungslos auf ihren Plätzen sitzen. Vielmehr möchten wir den Kindern zeigen, wie man angemessen handelt, indem sie ihre Energie und Aktivität auf konstruktive Weise einsetzen, unabhängig davon, ob es sich um aktive oder passive Handlungen handelt.

Freiheit und Grenzen schließen sich hier also nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen sich!
Kinder benötigen Freiheit, um ihre Selbstständigkeit und Selbstregulierungsfähigkeiten zu entwickeln, aber sie benötigen auch klare Grenzen, um ein Gefühl von Sicherheit und Struktur zu erhalten.

Die Freiheit des Kindes muss als Grenze das Gemeinwohl haben, als Form das, was wir als Wohlerzogenheit bei seinen Manieren und seinem Auftreten bezeichnen.
Wir müssen also dem Kind all das verbieten, was die anderen kränken oder ihnen schaden kann oder was als unschickliche oder unfreundliche Handlungen gilt. Doch alles andere – jede Äußerung, die einen nützlichen Zweck, ganz gleich in welcher Art und Form, verfolgt – soll ihm nicht nur erlaubt, sondern soll auch vom Lehrer beobachtet werden.“

Maria Montessori

Die Rolle der Eltern

Die Montessori-Pädagogik ist nicht auf den Klassenraum beschränkt, sondern erstreckt sich auf das gesamte Lebensumfeld des Kindes. In diesem Kontext spielen Eltern eine entscheidende Rolle als Partner:innen der Pädagog:innen. Sie sind maßgeblich daran beteiligt, die Prinzipien der Montessori-Pädagogik zu Hause zu unterstützen und zu fördern.

Die Prinzipien von Freiheit und Disziplin sollten immer auch in der täglichen Interaktion zwischen Eltern und Kindern angewendet werden. Eltern können ihren Kindern die Freiheit geben, ihre Interessen zu verfolgen und ihre Fähigkeiten zu entwickeln, während sie gleichzeitig klare Grenzen setzen und konsequente Regeln aufstellen, die das Wohlbefinden der ganzen Familie fördern.

Eltern tragen maßgeblich dazu bei, dass die Prinzipien sowohl in der Schule als auch zu Hause gelebt werden. Durch die Schaffung dieser unterstützenden Umgebung, die Förderung von Selbstständigkeit und Eigenverantwortung sowie die Anwendung von Freiheit und Disziplin im Alltag, können Eltern dazu beitragen, dass ihre Kinder zu selbstbewussten, einfühlsamen und verantwortungsbewussten Mitgliedern der Gesellschaft heranwachsen.
Das, was wir uns für alle Kinder wünschen!

Und auch hier ist es wichtig zu akzeptieren, dass wir nicht perfekt sind und dass es in Ordnung ist als Elternteil, Fehler zu machen.
Was wirklich zählt, ist unser Engagement, uns kontinuierlich weiterzuentwickeln, um unseren Kindern die bestmögliche Umgebung zu bieten, damit sie wachsen und gedeihen können.
Darüber hinaus ist es wichtig, dass Eltern Geduld und Empathie zeigen, wenn ihre Kinder lernen, mit ihrer Freiheit und ihrer Verantwortung umzugehen.
Und es ist normal, dass es Herausforderungen und Rückschläge gibt!

Letztendlich geht es aber immer darum, unsere Kinder mit Liebe, Respekt und Verständnis zu begleiten, während sie ihren eigenen Weg gehen.

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Eine Balance zwischen Freiheit und Disziplin

Die Verbindung zwischen Freiheit und Disziplin mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, aber in der Montessori-Pädagogik sind sie untrennbar miteinander verbunden.
Es bedarf einer klaren und bewussten Herangehensweise, um diese beiden Konzepte in Einklang zu bringen und eine Umgebung zu schaffen, die die natürliche Entwicklung des Kindes fördert.
Freiheit bedeutet eben nicht, grenzenlose Autonomie zu haben, sondern die Möglichkeit, innerhalb klar definierter Grenzen eigenständig zu handeln.
Und echte Disziplin entsteht eben nicht durch strenge Regeln und Strafen, sondern durch die Entwicklung innerer Ordnung und Selbstkontrolle.

Es ist diese Balance zwischen Freiheit und Disziplin, die es den Kindern ermöglicht, sich zu selbstständigen, einfühlsamen und verantwortungsbewussten Individuen zu entwickeln.

Ich hoffe, du konntest einen weiteren und tieferen Einblick in die Welt der Montessori-Pädagogik gewinnen!
Im Gegensatz zum laissez-fairen Ansatz setzt die Montessori-Pädagogik hier immer auf klare Strukturen und Erwartungen, die die Selbstständigkeit und Eigenverantwortung der Kinder fördern.

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© Montessori-Online, April 2024